Otto Scholderer
Stillleben mit kupferner Schale mit Äpfeln und Trauben, 1892
Das Œuvre des in Frankfurt am Main geborenen Otto Scholderer umfasst Porträts und Genreszenen, Landschaften und Stillleben.1 Erste entscheidende Prägungen erhielt er in seiner Vaterstadt, zunächst durch seine Lehrer an der Städelschule, sodann durch seinen Schwager Victor Müller und dessen Freund Gustave Courbet2. Seit der preußischen Annexion Frankfurts lebte Scholderer die meiste Zeit außerhalb der ehemals Freien Stadt – einige Jahre in Düsseldorf, kurze Zeit in München und Paris sowie schließlich 28 Jahre in London, bis er dann die letzten drei Lebensjahre wieder in Frankfurt wohnte. Besonders die Auslandsaufenthalte gewährleisteten Kontakte in die führenden Kunstszenen, zu herausragenden Künstlerpersönlichkeiten, zu hochkarätiger Kundschaft und sicherten letztendlich auch sein wirtschaftliches Auskommen. Nolens volens reagierte Scholderer auf die lokale Nachfrage, der er vor allem in London durch die erfolgreiche Erledigung zahlreicher Porträtaufträge wie auch durch Malunterricht für die gehobenen Kreise nachkam.
Unabhängig von wirtschaftlichen und künstlerischen Bedingungen pflegte Scholderer seit Jugendzeiten eine ausgesprochene Vorliebe für die Stilllebenmalerei, die er selbst bei Porträt- und Genredarstellungen als beiläufiges „Accessoire“ gelegentlich einzuflechten wusste. Doch erst Anfang der 1890er Jahre – nachdem sich die akademische Hierarchie der Bildgattungen überholt hatte – stießen seine Früchte-, Tier- und Blumenstillleben auf breitere Resonanz, wobei besonders aus seiner Heimatstadt die Nachfrage nach dieser Gattung ständig zunahm.3 Seit den frühen Stillleben, die den Einfluss Courbets widerspiegeln, über die Exemplare der mittleren Schaffensphase in der Tradition der großen französischen Fachvertreter Jean Siméon Chardin und Jean-Baptiste Oudry entwickelte Scholderer, immer mit Blick auf und im Austausch mit seinem Freund Henri Fantin-Latour4, eine bemerkenswerte malerische Virtuosität. Insbesondere mit den Stillleben der 1890er Jahre verfeinerte er bei aller Einfachheit der Arrangements die Wiedergabe der Materialbeschaffenheit zu einer reinen Augenweide, wie sich anhand des Ölgemäldes „Stillleben mit kupferner Schale mit Äpfeln und Trauben“ von 1892 darlegen lässt – „Eines der schönsten Stillleben des Künstlers“, so 1902 der Katalog des künstlerischen Nachlasses.5
Auf einer schwarzen Marmorplatte arrangierte Scholderer eine Kupferschale mit dunklen Weintrauben und einem leuchtend roten Apfel, umgeben von Äpfeln unterschiedlicher Sorten, deren Oberflächen mit ihren nuancierten Farbfacetten der Künstler zu einem malerischen Ereignis gestaltete.6 Hinterfangen von einer einfachen dunkeltonigen, aber subtil gemalten Fläche, fokussiert sich der Blick auf die „Bühne“, die gerade einmal die untere Bildhälfte einnimmt und im vorderen Bereich mit der Steinkante abschließt. Das Werk folgt somit nicht den akademischen Regeln einer geschmeidigen Einführung des Blicks in das Gemälde, sondern beharrt auf einer eigenen, vom Betrachterraum geschiedenen Bildwirklichkeit.7 Denn mit der bewusst aufgebauten Distanz zwischen Betrachter und Stillleben entzog Scholderer die Früchte einer vordergründigen Vorstellung von haptischer Berührung und genussvollem Verzehr, vielmehr stellte er alle Gegenstände als Artefakte dar. Und diese Wirklichkeit lebt von einem sehr artifiziellen Umgang mit den Objekten, mit deren Anordnung, Modellierung und Textur. Dabei spielt die Behandlung des Lichts die alles entscheidende Rolle. Die Ausdifferenzierung des Lichts in Bezug auf die Raum- und Objektsituation zeugt von einer sehr genauen Beobachtungsgabe und einem hochgradigen malerischen Können, genauer: von einer meisterhaften Malkultur, die ganz besonders mit den brillanten Spiegelungen auf der hochglänzend polierten Marmorfläche und ebenso auf der Außenwand der Kupferschale ein bemerkenswertes Niveau erreicht. Das von links oben einfallende Licht gestaltete Scholderer nicht als spektakuläres und spekulatives Schlaglicht, sondern er nutzte ein breites Spektrum an Licht- und Schattendichte, um die Gestalt und Lokalfarbe der Einzelmotive herauszuarbeiten und zu einem Bildganzen zusammenzuführen. Je nach Absorption der Oberfläche reagieren die Objekte auf die Beleuchtungsintensität mit einem Glänzen, Reflektieren oder Schimmern.8 Hier kreuzt sich die Forderung des Realisten, nur das zu malen, was man sieht, mit dem Anspruch des Naturalisten, die Stofflichkeit der Dinge zu erfassen, und dem Interesse des Impressionisten, die Interaktion von Objekt und Licht in der entsprechenden Beleuchtungssituation wiederzugeben. Insofern verliert mit Scholderers Licht- und Farbbehandlung die Linie als Gestaltungselement an Bedeutung zugunsten einer atmosphärischen Raum-Objekt-Beziehung; die weichen Umrisse der Dinge verschmelzen mit dem Umraum, gehen in Licht und Farbe auf.
Scholderers Sensorium für die fortschrittsorientierten Bestrebungen der unterschiedlichen künstlerischen Tendenzen im späten 19. Jahrhundert bewahrten ihn vor einer reduktiven Konzentration auf die ein oder andere stilistische Richtung. Mit seinem an den Alten Meistern in Frankfurt am Main, München, Paris und London geschulten Auge, mit seiner Feinfühligkeit für die Stofflichkeit im Detail wie im Gesamten und mit seinem Gespür für Licht und Farbe erarbeitete er sich eine unverwechselbare individuelle Handschrift, die die Tradition nicht negiert, diese vielmehr fortschreibt und auf ein zeitgemäßes Niveau hebt – in diesem Sinne gehört Otto Scholderer sowohl zu den herausragenden Stilllebenmalern als auch zu den Modernen seiner Zeit.
Fußnoten
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Maßgeblich Bagdahn, Jutta: Otto Scholderer 1834–1902. Monographie und Werkverzeichnis, Berlin 2020 (= Diss. Albert-Ludwig-Universität Freiburg im Breisgau 2002). ↩
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Victor Müller (1830–1871) und Gustave Courbet (1819–1877). ↩
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Bagdahn 2020, S. 161 f. ↩
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Jean Siméon Chardin (1699 – 1779), Jean-Baptiste Oudry (1686–1755) und Ignace Henri Jean Théodore Fantin-Latour (1836–1904). ↩
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Katalog des künstlerischen Nachlasses enthaltend 116 Werke eigener Hand des am 23. Januar 1902 zu Frankfurt verstorbenen Malers Otto Scholderer. Versteigerung zu Frankfurt am Main, Dienstag 29. April 1902 vormittags 10 Uhr und nachmittags 3 Uhr im Lokale des Frankfurter Kunstvereins, Junghofstrasse 8, Frankfurt am Main 1902, S. 13, Nr. 40. ↩
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Dem Akt des bewussten, auf Bildwirksamkeit kalkulierten Arrangements läuft der bei Herbst, Friedrich: Otto Scholderer. Ein Beitrag zur Künstler- und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1934, S. 63, Nr. 178 aufgelistete Werktitel „Stilleben mit Trauben und Äpfeln in Kupfergefäß und umhergestreuten Äpfeln“ zuwider. Die meisten nachfolgenden Publikationen übernahmen diesen Titel. Doch den Eindruck der „umhergestreuten Äpfel“ zu vermitteln, lag nicht in Scholderers Absicht, die hingegen der Katalog des künstlerischen Nachlasses wesentlich präziser wiedergibt: „Stillleben. Auf dunkler Platte sind vor einem Trauben und einen Apfel enthaltenden Kupfergefäß Aepfel der verschiedensten Art malerisch gruppiert.“; vgl. Katalog des künstlerischen Nachlasses (wie Anm. 5). ↩
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Die am unteren Bildrand beschnittene Wiedergabe des Stilllebens bei Wiederspahn, August/Bode, Helmut: Die Kronberger Malerkolonie. Ein Beitrag zur Frankfurter Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts, 3. Aufl. Frankfurt am Main 1982, Abb. S. 139 verfälscht die Intentionen Scholderers erheblich. ↩
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Vgl. Bagdahn 2020 (wie Anm. 1), S. 162. ↩